Im Jahre 1988 hatte ich eine Beratungsstelle für Ausreisewillige in Jena. Ich war damals Stadtjugendpfarrer in dieser schönen Universitätsstadt. Die „Ausreisewilligen“ zogen in Wellen gen Westen. Einige wurden vor ihrer Ausreise inhaftiert, dann freigekauft. Andere wollten dann nur noch „raus“. Anfangs wollte man noch demonstrieren, das war nicht ungefährlich, weil Haftstrafen drohten, weshalb ich mit ihnen während einer Beratung auch immer das Strafgesetzbuch studierte. Also erfanden wir „Wanderungen“. Die waren nicht verboten und jeder konnte dennoch sehen, wer da denn am Samstagvormittag wieder „wanderte“ im alten Zentrum der Universitätsstadt.
Wenn ich mit den Ausreisewilligen in der Beratung sprach, konnte ich nur in den wenigsten Fällen feststellen, dass da jemand aus politischen Gründen gehen wollte. Die meisten Leute waren Menschen, die wollten aus wirtschaftlichen Gründen „raus“. Sie wollten den Beruf ihrer Wahl studieren und dann beruflich erfolgreich sein. Handwerker sagten mir: „Hier hab ich eigentlich alles, aber ich will reisen und darf nicht.“ Nur wenige sagten, dass sie für „freie Wahlen“ seien und deshalb das Land verlassen wollten. Die meisten, die bei mir saßen, waren politisch nicht geübt. Sie hatten gelernt, den Mund zu halten. Aber jetzt war’s ihnen genug und sie wollten „raus“.
Als im Januar 1988 in Berlin nach einer Demonstration zu Ehren Rosa Luxemburgs junge Leute verhaftet worden waren, die ein Luxemburg-Zitat auf ihren Transparent gezeigt hatten, begannen wir in Jena sehr früh – ich glaube, es war erst März – mit den „Fürbittandachten für die zu Unrecht Inhaftierten“, aus denen sich dann die Fürbittgebete entwickelten und schließlich die öffentlichen Demonstrationen.
Bei diesen frühen Demonstrationen fanden sich Plakate, auf denen stand: „Wir sind das Volk“. Das war als Spitze gegen die SED-geführte Regierung der DDR gemeint, die ja den Anspruch hatte, das Volk zu vertreten. Es war ein Zeichen erwachenden Selbstbewusstseins. Allerdings: diese Losung wandelte sich schon sehr bald in „Wir sind ein Volk“. Wie man heute weiß, hatten Landleute aus Bayern bei diesem Wandel der Losungen auch ihren Beitrag geleistet….
Das Anliegen eines neuen Selbstbewusstseins innerhalb der DDR (es gab viele, die wollten in der DDR bleiben und das Land verändern, weil sie im Westen keine wirkliche Alternative erkennen konnten! In der Sektion Theologie der Universität hingen in jenen Tagen am Schwarzen Brett gleich am Eingang Zettel von Studenten, auf denen stand zu lesen: „Ich bleibe hier – du auch?“ Oder, als biblisches Zitat: „Wollt ihr denn auch fortgehen?“; bei der großen Demonstration auf dem Alexanderplatz war es noch Konsens: wir wollen hier bleiben und das Land verändern) änderte sich zum Anliegen der „Wiedervereinigung“. Auch dieses Wort wurde in jenen Tagen kritisch diskutiert, weil es nicht wenigen Menschen darum ging, den abzusehenden Einigungsprozess für einen wirklichen gemeinsamen Neuanfang zu nutzen.
Aber, es kam anders. Die Volkskammer beschloss den „Beitritt“ und die Kopierer wurden angeschaltet. Die alte Bundesrepublik West ergoss sich nun über die sterbende DDR. Es hatten sich diejenigen durchgesetzt, denen es vor allem um andere wirtschaftliche Verhältnisse ging. Das, was an politischen Reformen vorgedacht war – ein Grundgesetz beispielsweise – , landete im Papierkorb.
Jetzt, im Jahre 2016, stehen da wieder welche und rufen „Wir sind das Volk“.
Die wollen eine andre Republik. Die beschimpfen pauschal alle Gewählten als „die Politiker“, als „die da oben“, als „Altparteien“ (als ob die Parteien keine jungen Leute in ihren Reihen hätten). Was diese Rufer aber besonders kennzeichnet: sie halten nichts von Religionsfreiheit. Sie sind auch nicht selbstbewusst, sondern überaus angsterfüllt. Sie fürchten sich vor allerlei. Vor „Überfremdung“, vor „Umvolkung“ und anderen phantasierten Gefahren.
Hinter den Rufern von Dresden und anderen Orten stecken die Völkischen. Sie wollen einen Nationalstaat zurück, den es so, wie sie es wollen, nie gegeben hat und der auch in einem mittlerweile sehr eng verknüpften Europa ein Anachronismus ist. Sie wollen „die Uhr zurückdrehen“. Sie sind rückwärts ausgerichtet. Sie sind re-aktionär. In Gestalt der AfD ziehen sie nach und nach in den einen oder anderen Landtag ein und machen viel Geschrei dabei.
Ich glaube nicht, dass das lange hält, weil wir seit 1990 schon so allerlei Parteien in den Landtagen haben sitzen sehen, die erst mit großem Geschrei und großen „Wahlerfolgen“ eingezogen waren, dann aber schon sehr bald die Mühen der Demokratie lästig fanden. Dieses ständige Suchen nach Mehrheiten im demokratischen Prozess – nein, das war ihnen dann doch zu kompliziert und zu mühsam. Sie verstanden die Mechanismen auch nicht recht – und verschwanden wieder.
Andere kamen und gingen. Die „Wechselwähler“ sind in Ostdeutschland eine besonders große Wählergruppe und auch in den alten Bundesländern wächst die Gruppe der Wechselwähler, weil die Bereitschaft der Menschen zu einer dauerhaften Parteibindung abnimmt.
Dennoch: was ist die eigentliche Herausforderung, die von ihnen ausgeht? Von denen, die Mitglied der AfD, der NPD, von PEGIDA & Co sind und von denen, die sie wählen?
Die eigentliche Herausforderung besteht aus meiner Sicht vor allem in zweierlei:
1. Die Parlamente müssen selbstbewusster werden gegenüber den jeweiligen Regierungen. Wenn Parlamente nur noch „abnicken“, was ihnen eine politische Verwaltung vorlegt, dann ist die Demokratie tot. Zu einer lebendigen Demokratie gehören selbstbewusste Abgeordnete, die sich auch gegen Ministerien durchzusetzen wissen, wenn es drauf ankommt. Ich habe als Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär „beide Seiten des Tisches“ kennengelernt. Deshalb sage ich das hier.
2. Die Neue Rechte, die zu Unrecht behauptet, sie sei „das Volk“, denn sie vertritt keine Mehrheit, lebt vor allem davon, sich gegen etwas zu stellen. Derzeit vor allem gegen „den Islam“. Gegen eine Weltreligion also. Die Gründe dafür sind vielfältig. Man versteht nix von Religion. Schon gar nicht vom Islam. Man versteht nix von fremden Kulturen. Man will, „dass alles so bleibt“. Von Gestaltungswillen hin zu einer aufgeklärten, mündigen Bürgergesellschaft jedenfalls fehlt jede Spur. Es wäre deshalb ehrlicher, wenn auf ihren Plakaten nicht stünde „Wir sind das Volk“ (was nicht stimmt), sondern wenn man da lesen könnte „Wir sind Angsthasen“. Das träfe wohl eher zu.
Das aber fordert die anderen Parteien und Fraktionen heraus, klarer und verständlicher zu formulieren, wofür sie selbst denn stehen und wie sie mit aktuellen Herausforderungen umgehen wollen. Vor allem fehlt es an Mut, den Menschen zu sagen, wohin denn die Reise überhaupt noch gehen kann angesichts der globalen Herausforderungen, mit denen unsere Welt sich auseinandersetzen muss, ob sie will oder nicht.
Eine dieser Herausforderungen ist ganz sicher der Umstand, dass die Zahl der Flüchtlinge auf der Welt weiter stark wachsen wird. Auch dafür gibt es zahlreiche Gründe, die ich hier im Beitrag nicht im Einzelnen diskutieren will. Klar ist aber: die Zahl der Flüchtlinge weltweit wird weiter steigen, nicht nur, weil Kriege herrschen, sondern weil den Menschen schlicht in ihrer Heimat die Lebensgrundlagen fehlen. Wasser zum Beispiel.
Für unsere moderne bundesrepublikanische Gesellschaft ist durch die, wie ich finde, richtige Flüchtlingspolitik der Kanzlerin (jedenfalls in den ersten Monaten) eine neue Herausforderung entstanden. Ich will auf einen Aspekt aufmerksam machen, den ich für wichtig halte:
Die Menschen, die zu uns kommen, sind zum großen Teil religiös praktizierende Menschen. Für sie ist die Ausübung ihrer Religion völlig selbstverständlich. Für uns in Deutschland jedoch ist die Ausübung einer Religion überhaupt nicht selbstverständlich. In Ostdeutschland ist das noch stärker ausgeprägt als in den alten Bundesländern, aber es gilt wohl generell. Da prallen also Welten aufeinander. Die einen, die in den „Konsumtempel“ gehen – und die anderen, die ihren Gebetsteppich ausrollen, um ihr Tagesgebet zu verrichten.
Die Begegnung von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und verschiedener Praxis wird unser Land dauerhaft verändern. Die Frage ist also: sind wir Deutschen, die eine religiöse Praxis, eine tägliche religiöse Übung so gut wie nicht mehr kennen und pflegen – auf diese Begegnung mit unseren Mitmenschen überhaupt vorbereitet? Worüber wollen wir denn sprechen miteinander? Über Wirtschaft? Über Einkommen? Über Geld? Das wird nicht genügen. Ich glaube, dass vielen Menschen diese Dimension der neuen Herausforderung noch gar nicht klar ist.
Als ich vor zwei Jahren zusammen mit Renate Höppner auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung in St. Domingo mit Exil- und Inselkubanern in einer Tagung saß und gefragt wurde, was für Erfahrungen wir Deutschen im Prozess der „Wiedervereinigung“ gemacht hätten, habe ich gesagt: Ein großer Fehler der Wiedervereinigung bestand nach nicht nur meiner Auffassung darin, dass man geglaubt hatte, die Vereinigung beider deutschen Teilstaaten sei vor allem eine ökonomische Herausforderung. Das aber war ein gewaltiger Irrtum. Die vierzigjährige unterschiedliche politische und kulturelle Prägung der Menschen in Ost und West wurde völlig unterschätzt. Eben aufgrund dieser unserer Erfahrung sage ich heute: Wenn wir glauben, die „Integration“ der Menschen, die zu uns gekommen sind, sei vor allem ein ökonomische Herausforderung, dann irren wir erneut. Das nun ist die eigentliche Herausforderung: einen Fehler nicht zweimal zu begehen.
Autor
Ulrich Kasparick / www.ulrich-kasparick.de
Ulrich Kasparick wurde 1957 geboren, ist Parlamentarischer Staatssekretär a.D. und heute Pastor.