Haben wir bereits eine „Übermacht der Rentner“?

Donnerstagabend, 19.00 Uhr in einer Kleinstadt. Sechs Genossen und eine Genossin treffen sich zu einer Sitzung des SPD Ortsvereins. Es wird über Aktuelles aus dem Ort, dem Land und der Bundespolitik diskutiert. Nach 2,5 Stunden bröckelt die Teilnahme, die ersten gehen nach Hause. Nach fast drei Stunden beendet der Vorsitzende die Sitzung. Ergebnisse gibt es wieder keine, man hat rege über dies und jenes diskutiert. Jüngere Menschen sieht man selten, junge Frauen gar nicht. Der Jüngste in der Runde hatte gerade seinen 45. Geburtstag.

So sieht es – zugespitzt – in der (ost-)deutschen Fläche, jenseits der Universitätsstädten, vielerorts aus. Nicht nur bei der SPD, bei den anderen Parteien ebenso. Schaut man in die Räten von Städte und Gemeinden: Die selben Gesichter. Damit bewegen sich die eigenen Interessen auch näher an der Friedhofsgebührensatzung als bei der Festsetzung der Kita-Gebühren. Die kostenlose Biotonne für den eigenen Gartenlaub ist einem näher als eine günstige Restmülltonne, die die wöchentlichen Berge von Windelmüll entsorgen soll. An einer langfristigen strategischen Ausrichtung der Gemeinde wird selten gedacht. Die demographische Schieflage im Land ist längst zu einem strukturellen Mangel an demokratischer Repräsentanz geworden. Das wirkt sich bereits heute bei politischen Entscheidungen aus – da muss noch nicht einmal die Rentendebatte als Beispiel genommen werden.

Sind jüngere Menschen politisch desinteressiert? Jüngste Studien bestreiten das. Im Gegenteil: Gerade die nun kommenden jungen Erwachsenen sind erfreulich politisch interessiert. Allerdings: So wie die Generation 55+ Politik betreibt, wollen und können es jüngere Menschen kaum betreiben. Denn der Wunsch nach mehr Arbeitszeitsouveränität spielt nicht nur in der Arbeitswelt eine Rolle. Wer sich kommunalpolitisch ernsthaft engagieren will, muss dafür mindestens 10 Stunden/Woche investieren. Wer daneben noch Beruf, Familie und vielleicht ein weiteres Hobby hat, überschreitet das physisch Machbare. Besonders misslich: Selten kommt nach 2-3 Stunden Sitzung auch etwas Konkretes und Greifbares heraus. Menschen, die über viele Zeitressourcen verfügen, müssen sich wenig Gedanken über Effektivität ihres zeitlichen Engagements machen.

Wer sich diesen Sitzungsritualen nicht unterwerfen will und die Währung immer anwesend zu sein, nicht anerkennt, ist schnell raus. Übrig bleiben die, die bereit sind, ehrenamtlich in ineffektiven Runden viele Stunden Lebenszeit zu investieren. Große Teile der Bevölkerung finden in der politischen Meinungsbildung damit nicht statt: Junge Menschen, Eltern, Berufstätige, Selbständige, Erwerbslose… . Eine Bevölkerungsgruppe muss sich jedoch um mangelnde Präsenz in den politischen Strukturen keine Sorgen machen: Bezieher von Renten und Pensionen.

In Sachsen-Anhalt beträgt das derzeitige durchschnittliche Lebensalter 47,4 Jahre. Sachsen-Anhalt ist damit im bundesdeutschen Vergleich am Ältesten. Das Durchschnittsalter in den Parteien liegt um die 60 Jahre. Es ist damit leicht erklärlich, dass Ängste vor Fremden, vor einer unsicheren weltpolitischen Lage und den gesellschaftlichen Veränderungen die Diskussion dominieren. Wer sich im letzten Lebensabschnitt befindet, will die Früchte seines Lebens genießen und scheut Veränderungen. Problematisch ist, wenn dieses allgemeine Empfinden einer Generation die Debatte bestimmt und jede Aussicht auf eine progressive Gestaltung der Zukunft verbaut. Statt Angststarre brauchen wir Zukunftsoptimismus und den Willen, die Digitalisierung von Arbeit und Gesellschaft zu gestalten. Die Interessen dürfen sich dabei nicht auf einen Status-Quo beschränken, sondern müssen die Chancen der Zukunft einfordern.

Die Parteien als wesentlicher Teil der politischen Meinungsbildung müssen diese öffentliche Unwucht der Generationen dringend kompensieren. Sie müssen ihre Arbeit dringend den Bedürfnissen und Erwartungen der jüngeren Generationen, wie den gestressten Eltern, anpassen. Wer ihre politische Mitwirkung wirklich will, muss die Rahmenbedingungen hierfür ganz praktisch schaffen.

Familiengerechte Sitzungszeiten (nach 20.00 Uhr, max. 1,5 Stunden), Babysitter-Service, Kinderbetreuung bei Parteitagen, Klausuren und Konferenzen. Die politische Währung darf nicht die „abgesessene Sitzungszeit“ sein, sondern konkrete Projekte und Verantwortung für ein Thema, eine Veranstaltung, eine Kampagne. Die Meinungsbildung muss auch außerhalb von Sitzungen möglich sein. Manchmal geht vieles besser per Telefon, Skype, Facebook oder GoogleDocs. Das Ziel des Engagements muss ein konkretes Ergebnis sein.

Diese unterschiedlichen Kulturen und Erwartungen der Generationen müssen Unternehmen integrieren und stellt auch diese vor enormen Herausforderungen. Die Generationen X und Y stellen Verfahren, Abläufe und Hierarchien zunehmend in Frage. Parteien müssen sich jetzt auf den Weg machen – aber die U55 muss sich auch einmischen wollen. Sie müssen ihre Erwartungen einer zukunftsorientierten Politik nach ihrem Maßstab bei den Parteien einfordern.

Autor

Oliver LindnerOliver Lindner / www.olindner.de
geb. 1974, Vorsitzender der Politikwerkstatt Sachsen-Anhalt e.V.
Sozialdemokrat, wohnt im Jerichower Land.

Foto: xflickrx / CC BY 2.0